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Seismograph

L'art du détour

Gedanken von Lukas Held über Nostalgie für Ineffizienz und warum Umwege, das Fundament menschlicher Kultur sind.

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4 min

Ich picke jetzt einfach zwei Meldungen der letzten Woche heraus, die ich ziemlich vielsagend fand.

Das verschwunde Postbüro

Da wäre zunächst einmal die Schließung der Postfilialen in mehreren Ortschaften, gegen die es ja auch Proteste von der Linkspartei und den Kommunisten gab. Und nicht weil damit Arbeitsplätze verloren gingen, sondern weil dadurch die Wege länger werden. Anstatt wie vorher in das örtliche Büro zu gehen, muss man jetzt in die nächste größere Stadt oder ins nächste größere Shoppingcenter fahren, um seine Postgeschäfte zu erledigen.

Das ist besonders penibel für Menschen, deren Mobilität eingeschränkt ist oder die sich nicht auf das private Auto verlassen können. Außerdem entleert es die Dörfer und Städte, denn die Postfiliale gehört ja auch immer irgendwie zum Dorf- oder Stadtkern.

Nun will ich hier nicht in eine falsche Nostalgie für das alte Postbüro mit seiner Endlos-Schlange und einem schlechtgelaunten Postbeamten hinter dem Glasschalter verfallen. Und dennoch bin ich kein Freund der neuen Postbüros. Die scheinen mir immer mehr wie ein Shopping-Center: mit ihrer etwas unübersichtlichen Organisation, dem ebenso hellen wie sterilen Design, den Einkaufsrayons en libre service, den ständig flimmernden Großbildschirmen und Handys.

Die Shoppingmall als service public. So versteht sich die Post des 21. Jahrhunderts natürlich auch: als ein Business, das drehen soll, das sowohl dynamisch als auch effizient sein muss. Die Post erklärt uns, dass die Kunden in den neuen Postbüros alle Services auf einmal hätten, nicht wie in den alten, wo man eben nicht alle Geschäfte abwickeln konnte. Aber ist es denn so dramatisch, sich ab und zu auch einmal an zwei Orte begeben zu müssen?

Ich habe sicherlich keine Nostalgie für lange Warteschlangen, aber ich habe Nostalgie für Ineffizienz. Und zur Ineffizienz gehört der Umweg, der détour. Den macht man nämlich, wenn man zum lokalen Postbüro geht...und etwas miteinander quatscht, und neues erfährt, und sich Gedanken macht. Da ist er dann, der berühmte art du détour. Dazu bedarf es allerdings auch Orte der Begegnung.

Der inexistente Dorfkern

Und damit wäre ich bei der zweiten Meldung der letzten Woche, nämlich der Kritik des Mouvement écologique an der Planung des neuen Stadtteils Faïencerie. Eine völlig berechtigte Kritik wie ich finde: kaum erschwinglicher Wohnraum (was an sich schon skandalös ist), kaum Grünfläche, keine Begünstigung nachhaltiger Mobilität, kein Umdenken in Sachen Infrastruktur, kein direkter Anschluss an den Lampertsbierg - anders gesagt: kein Ort des Verweilens oder der Begegnung, nur wieder ein weiteres dortoire für Besserverdiener.

Und der Rollengergronn und die Millebaach haben immer noch keinen Dorfkern und die BürgerInnen auch weiterhin keinen Grund, diese Stadtteile zu besuchen und aufzuwerten. Im Gegenteil, man verlässt sie auf dem direktesten Weg - ohne dort zu verweilen, ohne einen Umweg einzuschlagen. Luxemburg ist bekanntlich das Land der kurzen Wege - aber leider auch der direktesten Wege. Da bleibt kein Platz mehr für den Umweg.

Es passt ins Bild, dass es bei diesem Projekt zu wenig Bürgerbeteiligung gab (so meint zumindest das MouvEco). Bürgerbeteiligung ist eben auch eine Form von Umweg...

Die Barbarei des direkten Wegs

Umwege sind allerdings das Fundament menschlicher Kultur. Wenn man drüber nachdenkt, ist die menschliche Kultur eigentlich ein einziger großer Umweg: wirklich nicht effizient, auch nicht immer rationell, dafür aber der Ausdruck von Freiheit, von Selbstbestimmung und von Pluralität. Der Philosoph Hans Blumenberg schrieb einmal "Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren. Gingen alle den kürzesten Weg, würde nur einer ankommen."

Es kommt nur einer an, weil man auf dem einen, dem direkten Weg keinen Blick für Anderes, für Fremdes hat. Man ist nicht offen, eben diesen direktesten Weg zu verlassen - auch und sogar wenn es der falsche Weg ist. Umweg bedeutet Begegnung, und Begegnung bedeutet Veränderung.

Wir schöpfen aus diesen Umwegen, aus diesen Abweichungen, dem Innehalten, dem gedanklichen Zurücktreten, den Begegnungen und schließlich der Entscheidung, vielleicht einen neuen Weg zu gehen - oder weiterzugehen, bis zu nächsten Begegnung. Die vollendete Barbarei wäre doch die, immer den direktesten, den effizientesten Weg gehen zu müssen.

Passt es da nicht hervorragend ins Bild, dass an der im neuen Quartier angesiedelten Luxembourg Business School sogenannte Weekend-MBAs angeboten werden, also Master-Studiengänge ohne großen Zeitaufwand, sozusagen am Wochenende? Was ist eigentlich Bildung, wenn sie kein Umweg mehr ist, sondern ganz effizient in den Businessplan des eigenen Lebens passt, reingequetscht ins Wochenende, super effizient. Man sollte sich in Acht nehmen vor denen, die sich nicht die Zeit nehmen wollen, den Umweg des Nachdenkens zu gehen.