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Prisma

Dialektik - was ist das?

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde vor 250 Jahren in Stuttgart geboren. Anlässlich dieses Jubiläums werden im Prisma einige wesentliche Stationen aus seinem Denken vorgestellt - ein Denken an dem sich auch heute noch die Geister scheiden und das nichts an seiner Faszination eingebüßt hat. In der zweiten Folge geht es um die hegelsche Dialektik, die Hegel zwar nicht erfunden hat, die aber in seinem Denken einen neuen Stellenwert erhält. Lukas Held erklärt uns, was es mit diesem Begriff auf sich hat.

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6 min

Wer an Hegel denkt, denkt unweigerlich an die Dialektik und wer an die Dialektik denkt, denkt leider an sehr viel Falsches. Falsch ist es z. B. zu meinen, Dialektik sei eine Art "ménage à trois" aus These, Antithese und Synthese, eine gedankliche Spielerei, wo man vom einen über das andere zu jenem gelangt. Es ist allerdings auch falsch zu meinen, dass das die Sache völlig verfehlt. Ganz falsch ist es hingegen zu denken, dass sich Hegels Philosophie auf diesen Dreisprung resümieren ließe, ebenso wie es falsch ist zu behaupten, dass Hegel der Erfinder der Dialektik sei. Viel Falsches also, aber was ist sie denn jetzt eigentlich diese berühmte Dialektik? Und wie passt sie in das, was wir letzte Woche als Hegels "Philosophie des Werdens" bestimmt hatten, also in ein Denken, das dem Wechselspiel zwischen Begriff und Welt nachgeht?

Dialektik als Prinzip

Fangen wir einmal von vorne an, und das ist in der Philosophie beinahe immer bei den alten Griechen. Die Denker der Antike unternahmen als erste den Versuch, die Welt zu erklären, ohne dabei auf mythologische Schemen zurückzugreifen, und sich also die Welt als "vernünftig" vorzustellen. Deshalb machten sich Philosophen wie Thales, Parmenides oder Heraklit auf die Suche nach den allgemeinen "Prinzipien", die der Welt zugrunde liegen. Eines dieser Prinzipien hat der Philosoph Heraklit mit der Metapher der Leier, also diesem antiken Musikinstrument, illustriert. Die Leier besteht aus einem hölzernen Bogen, auf den man Saiten spannt, so dass er in eine gewisse Form gebracht wird. Nun stehen der Bogen und die Saiten in Spannung zueinander: die Saiten streben danach, das Holz zu bersten, und das Holz danach, die Saiten zu zerreißen. Erst aus dieser - wie Heraklit es nennt - "gegenstrebigen Fügung", aus diesem spannenden Gegensatz entsteht etwas Neues, nämlich Musik. Musik entsteht, wenn Gegensätze sich in ihrer Spannung zu etwas Neuem fügen. Darin sieht Heraklit eine Art Grundprinzip allen Seins, nämlich dass alles sich immer wandelt, dass alles fließt weil es in Bewegung ist, und dass diese Bewegung eben vom Spiel der Gegensätze angetrieben wird. Das ist die Urform der Dialektik: ein Spiel der Gegensätze, das dem ständigen Fluss der Welt zugrunde liegt.

Dialektik als Methode

Nun kannten Heraklit und Konsorten das Wort "Dialektik" aber noch gar nicht, denn es tritt erst später auf, im Kontext der Sophisten. Sie, die Sophisten, sind es, die aus dem Spiel der Gegensätze eine Methode machen, besser gesagt eine Argumentationsmethode. Ihnen ging es nämlich nicht mehr um die Suche nach dem einigenden Prinzip, das der Welt zugrunde liegt, sondern um viel menschlichere Dinge, wie z. B. das öffentliche Debattieren oder die Verteidigung eines Angeklagten vor Gericht. Dass man den Begriff "Sophismus" oder "Sophisterei" heute nur mehr pejorativ verwendet, hat damit zu tun, dass die Sophisten das Spiel der Gegensätze eben nicht - wie ihre Vorgänger - als den Motor eines fließenden Prozesses verstanden, sondern diese Gegensätze fixierten. Der Sophist kann - je nach Salär - sowohl die thetische als auch die antithetische Position vertreten, da ihm beide gleichwertig erscheinen. Denn letztlich ist er der Auffassung, dass es keine Wahrheit gibt, da alles relativ ist.

Aber in diesem sophistischen Spiel geht es um nicht mehr als um das Spiel selbst - oder anders gesagt: ihnen geht der Blick für das Ganze verloren. Wenn ich mit jemandem in den Dialog trete, um meine Position mit seiner zu konfrontieren, dann muss ich annehmen, dass sowohl seine als auch meine Position falsch sein könnten. Wenn ich das nicht tue, ist der Dialog von vornherein zum Stillstand und deshalb zum Scheitern verurteilt, denn dann sind zwar alle glücklich, aber genauso dumm wie vorher. Die heutige Debattenkultur krankt übrigens an diesem völlig falschen Verständnis von intellektuellem Austausch, bei dem es weder darum gehen sollte, die Gegenposition in Grund und Boden zu debattieren, noch darum, sie mit Verweis auf das Toleranzprinzip einfach zu akzeptieren - nach dem bekannten Motto "Let's agree to disagree".

Zu debattieren - und ich meine wirklich zu debattieren, also sich dialogierend auf Wahrheitssuche zu begeben - bedeutet, die Einseitigkeit der eigenen sowie der anderen Position festzustellen, die immer nur einzelne Teile der ganzen Wahrheit sind. Das ist zumindest die Auffassung Sokrates' und seines Schülers Plato, die in der Dialektik eine "Methode des Denkens" sahen, mittels derer man diese Teile ordnen kann, um sich an ihnen hinauf zur Wahrheit zu hangeln.

Dialektik und Aufhebung

Aber was geschieht denn nun wirklich bei diesem Prozess? Und was hat Hegel mit alldem zu tun? Nun, wir sahen ja bereits, dass es sich bei der Dialektik um ein Spiel der Gegensätze handelt, zwischen einer Position und einer konträren Gegenposition. Der zeitgenössische brasilianische Philosoph Carlos Cirne-Lima hat das anhand eines konkreten Beispiels veranschaulicht, nämlich des Unterrichts. Im Unterricht vermittelt ein Wissender (nennen wir ihn den Meister) einem Unwissenden (nennen wir ihn den Lehrling) sein Wissen. Meister und Lehrling stehen zunächst in einem Gegensatz zueinander, denn der eine weiß, und der andere weiß nicht. Das ist die Voraussetzung des Lernprozesses, in welchem nun der Meister sein Wissen dem Lehrling vermittelt, so dass der Lehrling auf dieselbe Stufe wie der Meister gelangt. Er besitzt nun dasselbe Wissen wie der Meister, der Gegensatz zwischen den beiden ist jetzt aufgehoben.

Und das ist auch schon das Stichwort, die "Aufhebung", denn dieses Wort trifft den Kern dessen, was hier geschehen ist. Aufheben bedeutet nämlich nicht nur, etwas überwinden, so wie man bspw. Grenzen aufhebt. Aufheben heißt ja auch, etwas bewahren, aber auch etwas "hoch"heben, also auf eine höhere Ebene stellen. Denn indem der Meister seinem Lehrling das Wissen vermittelt hat, hat er dieses im Lehrling "aufbewahrt", so dass es nach seinem Tod weitergegeben werden kann. Und schließlich sind beide - der Meister und der Lehrling - auf eine neue Ebene gelangt, auf der es weder den Meister noch den Lehrling gibt. Denn der Meister hört auf, Meister zu sein, wenn der Lehrling seinerseits Meister wird. Gerade darin liegt der Sinn dieses Spiels, nämlich in der "Aufhebung" der Gegensätze, die zugleich überwunden (d. h. beendet) und aufbewahrt (d. h. erhalten) werden.

Ich gebe ein anderes Beispiel, nämlich das Kinderkriegen. Aus der Vereinigung der Eltern, als Frucht ihrer Liebe, wie es so schön heißt, entspringt das Kind. Im Kind heben sich die Eltern auf, im dreifachen Sinne dass sie erstens das einfache Paar-Sein überwunden, zweitens ihre Liebe im Kind aufbewahrt und drittens zusammen auf eine neue Stufe, die des Familie-Seins hochgestiegen sind. Das Kind ist also die Aufhebung des Gegensatzes der Eltern, in welchem sie sich negieren und dadurch bewahren. Ich finde übrigens, das sollte man auf Grußkarten schreiben, anstatt "Herzlichen Glückwunsch zur Geburt" oder sowas banales.

Aber zurück zu Hegel. Dialektik ist für ihn sowohl das Prinzip des Werdens der Welt als auch die Methode, nach der sich dieses Werden denkend nachvollziehen lässt. Für Hegel lösen sich die starren, dogmatischen Wahrheiten, also alles Feste und vermeintlich Sichere, in diesem Prozess des Werdens auf. Wahr ist bei Hegel eben nicht, was feststeht und sich immer gleichbleibt, sondern wahr ist, was widersprüchlich ist. Denn, so sagt Hegel: "Das Wahre ist das Ganze". Und das bedeutet wiederum, dass diese Widersprüche, die sich auf den ersten Blick starr gegenüberstehen, nur Teile eines Prozesses sind. Das Ganze ist immer das Ganze der Widersprüche, in welchem diese Widersprüche "aufgehoben" sind.