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Seismograph

Minimale Ethik

Vor fünf Jahren starb der französische Philosoph und Ethiker Ruwen Ogien. Was seine "minimale Ethik" uns heute zu sagen hat und was das mit einer außer Kontrolle geratenen Tram zu tun hat, erklärt Lukas Held.

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3 min

Gedankenexperimente sind beliebte Tools von Philosophen. Oft sagt man ihnen nach, dass sie unrealistische Situationen darstellen, dass sie absurd seien, dass sie uns in Situationen zwängen, die niemals in der Realität auftreten.

Aber das ist an sich gar nicht schlimm, im Gegenteil, es geht ja darum, uns perplex zu machen, damit wir nicht in irgendwelche Gewohnheiten zurückfallen. Und es geht vor allem darum, unsere moralischen Intuitionen zu testen.

Denn wir alle haben schließlich solche Intuitionen. Es scheint z.B. gerechtfertigt, eine Person zu opfern, um fünf Leben zu retten. Wenn man das Experiment aber etwas umformuliert, sieht die Sache anders aus.

Es gibt keine allgemeine moralischen Prinzipien

Stellen Sie sich vor, Sie sind Arzt und haben fünf Patienten, die sehr dringend verschiedene Organe benötigen. Der eine eine Leber, der andere eine Niere, usw. Wenn die Transplantation nicht bald erfolgt, müssen diese Menschen sterben. Wäre es gerechtfertigt, einer kerngesunden Person die Organe zu entnehmen, um fünf andere zu retten?

Unsere Intuitionen schwanken je nach Setting. Deshalb ist es auch sehr schwer, allgemeine moralische Prinzipien zu entwerfen. Und es ist noch viel schwerer, eine moralische Theorie zu finden, die alle Fälle abdeckt und in allen Fällen Guidelines vorgibt, die sich mit unseren Intuitionen decken (oder diesen zumindest nicht grob widersprechen).

Manchmal folgen wir eben unseren Intuitionen, manchmal handeln wir nach erlernten Prinzipien, wir sind - alles in allem - recht flexibel in Sachen Moralität. Man sollte sich deshalb auch vor den denen hüten, die glauben, ein universales Prinzip gefunden zu haben, eine Maxime oder ein Set von Regeln, die unser Handeln in allen Situationen in die richtige Richtung lenken.

Dieser Meinung war zumindest der französische Philosoph Ruwen Ogien der gestern vor fünf Jahren verstarb - und den wir in der Covid-Krise schmerzlich vermisst haben. Ogien war ein Hauptvertreter der sogenannten minimalen Ethik.

Die drei Prinzipien der minimalen Ethik

Bei der minimalen Ethik gibt es noch einige Prinzipien, sonst wäre es keine Ethik mehr, aber halt sehr wenige, nämlich ganz genau drei.

  1. Erstens die Neutralität gegenüber verschiedenen Definitionen dessen, was gut ist. Denn was gut ist darf nicht verwechselt werden mit dem, was gerecht ist.
  2. Zweitens: das Prinzip, demzufolge man es vermeiden soll, anderen Menschen Schaden zuzufügen.
  3. Und drittens die Forderung, den Stimmen und den Interessen der anderen den gleichen Wert zuzumessen, wie den eigenen.

Die Unterscheidung zwischen gut und gerecht ist dabei sehr wichtig. Denn oft meint man, dass das, was man selbst gut findet auch richtig sein muss, resp. dass das was richtig ist auch gut sein muss.

Aber das stimmt nicht: das Gute ist relativ, das Richtige ist universal. Das bedeutet, dass man in Bezug auf das, was richtig oder gerecht ist universalistisch denken kann, während man in Sachen gut durchaus Relativist sein kann.

Das Gerechte betrifft meine Beziehung zu anderen, vom Guten haben wir alle aber eine verschiedene Definition.

Unterschiedliche Pflichten

Eine weitere Unterscheidung, die Ogien macht, ist die zwischen einem Leid, das man sich selbst zufügt, und Leid, das man anderen zufügt - also zwischen Suizid und Mord.

Es bedeutet aber auch, dass die Pflichten, die ich mir selbst gegenüber habe, nicht vergleichbar sind mit denen, die ich anderen gegenüber habe. Zum Beispiel ist es irrelevant wie ich mich selbst behandle, solange ich niemand anderem schade.

Die minimale Ethik versucht, die Luft aus den aufgeblasenen moralischen Prinzipien zu lassen, dem Individuum eine maximale Freiheit zu gewährleisten und dem paternalistischen Moralismus entgegenzuwirken.

Man findet bei Ogien vielleicht eben keine absoluten Guidelines für das eigene Leben, aber man kommt ins Grübeln über all die vermeintlichen moralischen Gewissheiten, die man im Leben so hat. Ich empfehle die Lektüre dazu auch die Lektüre des Buchs "L'influence de l'odeur des croissants chauds sur la bonté humaine".