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Seismograph

Vom Denken und vom Gehen

Mit dem Denken verhält es sich ganz ähnlich, wie mit dem Wandern: erst wenn man sich vom Willen befreit hat, möglichst schnell an ein Ziel zu kommen, kommt man im Denken weiter.

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4 min

Der Philosoph Lukas Held. Foto: Archiv

Simon Larosche: Lukas, du warst viel Wandern in letzter Zeit?

Lukas Held: Wandern ist vielleicht ein etwas großes Wort, ich bin aber tatsächlich viel spaziert in letzter Zeit. Mir hilft spazieren tatsächlich immer beim Denken - und bestimmt geht es der ein oder anderen Zuhörerin auch so. Schon während des Studiums bin ich beim Blocken immer durch die Wohnung gewandert - was auf 12 m2 zugegeben etwas komisch aussah. Aber ich habe die Gewohnheit behalten. Und wenn ich heute noch zu lange über einem Problem grüble, genügt meistens ein langer Spaziergang, um die Gedanken zu ordnen. Zwischen Gehen und Denken gibt es wohl einen Zusammenhang - was auch in der Philosophie thematisiert wurde.

Ich kann mich noch vage an die "Peripatetiker" erinnern.

Ja, so nennt man die Schule, die Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. begründete. Das Wort kommt vom griechischen peripatoi was eine Form von Kolonnaden bezeichnet, eine Art Säulengang. Dort trafen sich die Anhänger des Aristoteles, um zusammen zu philosophieren - und zwar im Gehen. So will es zumindest die Legende...Aber nicht nur Aristoteles hatte die Angewohnheit, gehend zu philosophieren - offensichtlich war es im antiken Griechenland gang und gäbe, Fortbewegung und Denken zu kombinieren.

Nur im antiken Griechenland?

Nein, diese Tradition hat sich durchgehalten. Der Philosoph Immanuel Kant, den der ein oder anderen vielleicht noch aus der 1ère kennt, machte z.B. jeden Tag um sieben Uhr abends einen exakt bemessenen Spaziergang. Von Kierkegaard weiß man ebenfalls, dass seine Promenaden durch Kopenhagen einer strengen Regelmäßigkeit und sogar einem festen Streckenablauf folgten. Friedrich Nietzsche machte regelmäßige Wanderausflüge, ebenso wie Goethe und Jean-Jacques Rousseau. Eines der schönsten Werke der europäischen Tradition sind übrigens Rousseaus Rêveries d'un promeneur solitaire - sein letztes Werk. Rousseau wandert hier durch die eigenen Gedanken und die Natur - und macht seinen Leser dabei zum Wegbegleiter. So wandern wir mit ihm, auf Umwegen, mal in uns selbst hineinsehend, mal auf die Natur, mal in die Zukunft und mal in die Vergangenheit denkend, ohne dabei ein allzu festes Ziel vor Augen zu haben. Das alles sind eigentlich die Charakteristika des Nachdenkens.

Habe ich das richtig verstanden: Wandern regt das Denken an, weil Wandern und Nachdenken eigentlich dieselbe Form haben?

Wenn man wandert, dann lässt man sich ja auf etwas ein. Man weiß, dass es etwas länger dauern wird, man weiß auch, dass es nicht gerade praktisch ist (denn mit dem Auto oder Rad ist man ja schneller). Und es ist auch - ehrlich gesagt - kein wirklicher Adrenalinkick dabei (es sei denn man pilgert sich auf Knien rutschend in Trance oder sowas). Wandern ist langsam, manchmal verläuft man sich und oft weiß man wirklich nicht, wo man ist, bis man wieder einen Anhaltspunkt findet und es weiter geht. Spazieren gehen ist eigentlich noch zweckloser, vor allem dann, wenn man immer dieselben Routen geht.

Aber eben diese Langsamkeit ermöglicht es, sich - wie im Falle des Wanderns - auf die Umgebung einzulassen oder - wie beim Spazieren - seinen Geist wirklich verfügbar zu machen. Und mit dem Denken verhält es sich ganz ähnlich, wie mit dem Wandern: erst wenn man sich vom Willen befreit hat, möglichst schnell an ein Ziel zu kommen, erst wenn man bereit ist, auch einmal einen Umweg zu gehen, dann kommt man im Denken weiter.

Denken auf Umwegen - das klingt wie eine Definition von Philosophie.

Es gibt sicherlich Bereiche des Wissens, in denen es darum geht eine möglichst kurze Verbindung zwischen Problem und Lösung herzustellen, und das in ganz strenger Ordentlichkeit, nach gewissen Prinzipien und fixen Regeln. Aber eben das ist der Unterschied zwischen Denken und Nach-Denken. Wenn man denkt, sucht man nach Lösungen für Probleme und Antworten auf Fragen. Wenn man nachdenkt, wenn man nachdenklich ist, dann lässt man Probleme und Fragen erstmal stehen, man lässt sich darauf ein - und geht dann vielleicht auch einfach mal weiter. Denn letztlich haben Wandern und Nachdenken einen wichtigen Punkt gemeinsam.

Nämlich?

Man macht beides falsch, wenn man den kürzesten Weg wählt.

Danke Lukas für diesen Beitrag, und damit es keine Missverständnisse gibt: viele Denker waren auch Wanderer, aber nicht jeder Wanderer ist auch ein Denker!