Radioen

On air

Kultur um 5  |  LCD Soundsystem - Time To Get Away

play_arrow Live
arrow_back_ios

100komma7.lu

100komma7.lu

/ Die Kränkung der Menschheit

Seismograph

Die Kränkung der Menschheit

De Sigmund Freud, de Papp vun der Psychanalys, war der Meenung, datt d'Mënschheet an der Geschicht dräimol gekränkt gouf: vum Kopernikus, vum Darwin a vum Freud selwer. Kéint et sinn, datt mir grad eng véiert Kränkung vun der Mënschheet erliewen, an zwar vun der Kënstlecher Intelligenz?

auto_stories

4 min

Das Haus des Ich

Von Sigmund Freud stammt das schöne Bonmot, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause sei. Mit dieser griffigen Formel brachte Freud jene Einsicht auf den Punkt, zu der seine intensive Beschäftigung mit dem Seelenleben psychisch kranker Menschen ihn geführt hatte, nämlich die Einsicht, dass das Ich nicht nur aus einem rationalen, bewussten Teil besteht, sondern dass in ihm auch etwas Unbewusstes am Werk ist - und zwar dergestalt, dass das Machtverhältnis nicht zugunsten des bewussten, sondern vielmehr zugunsten des unbewussten Teils des Ich ausfällt. Um einmal in der Metapher zu bleiben: in dem Ich-Haus gibt zwar es einige Zimmer, die hell beleuchtet und besonders gut durchlüftet sind. In diesen paar Zimmern halten wir uns gerne auf und dort empfangen wir Gäste. Aber es gibt da noch den großen Dachboden, und vor allem den Keller, einen riesigen dunklen Keller, in dem es raschelt, knarzt, und flüstert. Denn in Wirklich ist unser Haus ein Palast dunkler Zimmern und die hellen Zimmer eher die Ausnahme. Denn: Die unbewusste Dimension unseres Ich bestimmt unser Handeln, Denken und Fühlen maßgeblich. Soweit zumindest die These des Psychoanalyse.

Drei Kränkungen

Freud war sich der Sprengkraft seiner Theorie sehr wohl bewusst. Und da er ansonsten auch kein bescheidener Mensch war, stellte er seine Entdeckung in eine Reihe anderer großartiger Entdeckungen, die das Selbstverständnis der Menschheit grundlegend veränderten. Freud nannte es die drei Kränkungen der "menschlichen Größensucht". Die erste wurde durch Nikolaus Kopernikus und dessen heliozentrischem Weltbild ausgelöst. Dass die Erde um die Sonne drehte und nicht umgekehrt, bedeutete, dass die Erde nur ein Planet unter vielen anderen und nicht mehr das Zentrum des Universums war. Ergo waren dessen Bewohner - wir - auch nicht mehr der Mittelpunkt des Weltalls, sondern - wie Freud es sagt - "ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems". Zugegeben: das kratzt schon etwas am eigenen Ego. Der zweite Kratzer ließ nur dreihundert Jahre auf sich warten. Gemeint ist Charles Darwins Theorie der Evolution und der damit einhergehende Befund, dass dem Menschen kein "Schöpfungsvorrecht" einzuräumen sei. Der Mensch sei nicht mehr als ein hochentwickeltes Tier, dessen animalische Natur jedoch unbestreitbar sei. Und etwa 100 Jahre später erklärte Sigmund Freud dem Menschen, er sei nicht nur nicht Herr des Universums, noch Herr der Erde, sondern noch nicht einmal Herr seiner selbst. Das war die dritte Kränkung.

Gleichgültigkeit

Könnte es sein, dass sich gerade die vierte Kränkung der menschlichen Eigenliebe anbahnt - und zwar in Form der sogenannten künstlichen Intelligenz? Damit meine ich nicht die unmenschlichen Rechenkapazitäten der Programme, um die wir schon seit langem wissen und derer wir uns tagtäglich bedienen. Nicht die Einsicht in die Begrenztheit unsere Fähigkeiten kränkt unsere Eigenliebe. Nein, was uns Menschen kränkt, was uns wirklich wahnsinnig macht, ist Gleichgültigkeit, genauer gesagt Gleichgültigkeit uns Menschen gegenüber. Darum geht es bei den drei von Freud genannten Kränkungen, und darum geht es auch in der vierten Kränkung: um die Einsicht, dass die Welt und ihre Dinge uns gegenüber gleichgültig sind. Einst sah der Mensch sich als Ebenbild Gottes, ebenso vernunftbegabt, vom göttlichen Funken beseelt, zwar nicht so allwissend wie dieser, aber dennoch mächtig, die Welt und seine Umwelt beherrschend. Heute sind wir von Gott verlassen, und hocken auf einem sterbenden Planeten, der durch einen riesigen Kosmos kreist. Wir sind verloren in einer Welt, die uns unendlich übersteigt, die vor uns da war, und unsere Spezies überdauern wird. Aber die Kränkung durch die K.I. hat noch eine andere Qualität. Sie besteht darin, dass die K.I. ihren Schöpfern - also uns - gegenüber selbst gleichgültig ist. Die K.I. verfasst brillante Texte, komponiert Musik, gewinnt Fotowettbewerbe (wie unlängst den Sony Foto Award), sie beherrscht menschliche Kulturtechniken, die wir uns penibel aneignen mussten - und das alles tut sie, ohne zu wissen, dass sie es tut und ohne es wirklich tun zu wollen. Deshalb müssen wir die K.I. anthropomorphisieren, deshalb versuchen wir ihr eine Intelligenz oder vielleicht gar eine Absicht zu unterlegen. Die Anthropomorphisierung der künstlichen Intelligenz ist des Menschen Versuch, etwas von sich selbst dort zu finden, wo schon längst nichts mehr von ihm ist.

Die vierte Kränkung der Menschheit

Die vierte Kränkung der Menschheit besteht letztlich darin, etwas erschaffen zu haben, dass viele der eigenen Errungenschaften nicht nur lächerlich wirken lässt, sondern diesen Errungenschaften gegenüber auch gleichgültig ist. Kopernikus hat das Zeitalter der Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschen eingeläutet, Darwin und Freud haben es radikalisiert und ChatGPT beendet es. Wir Menschen dürfen angesichts dessen nicht den Fehler begehen, unsererseits gleichgültig zu werden - sei es nun gegenüber unserer Umwelt, unserer Spezies oder letztlich uns selbst. Denn die Indifferenz ist das Gegenteil der Humanität, sie ist die Negation des Menschseins.