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Seismograph

Was ist ein Ereignis?

Dass der Krieg in der Ukraine ein außergewöhnliches Ereignis ist, scheint uns allen klar? Aber was ist eigentlich ein Ereignis im philosophischen Sinn? Und was ändert sich nun?

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4 min

Das unbekannte Bekannte

Um die Aktualität in der Ukraine zu kommentieren, würde ich gerne etwas weiter ausholen - und von der Philosophie allgemein sprechen. Ich fange an bei zwei Begriffen, nämlich den Begriffen "bekannt" und "unbekannt". Diese beiden Wörter kann man nämlich auf vier Arten und Weisen miteinander kombinieren.

Es gibt bekanntes Bekanntes, also Dinge, von denen ich weiß, dass ich sie weiß. Es gibt bekanntes Unbekanntes, also Dinge von denen ich weiß, dass ich sie nicht weiß. Es gibt unbekannte Unbekannte, d.h. Sachen, von denen du weißt, dass du sie nicht weißt. Ich behaupte einfach mal, dass das den allergrößten Teil dessen ausmacht, was es gibt.

Und dann gibt es - und das ist jetzt interessant - das unbekannte Bekannte. Das unbekannte Bekannte sind Dinge, von denen ich nicht weiß, dass ich sie weiß. Der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoy Zizek sagt, dass es sich dabei um uneingestandene Glaubenssätze handelt, um den unbewussten Rahmen oder den Horizont, in welchem wir Realität erfahren.

Der Arbeitsbereich der Philosophie ist eben jenes "unbekannte Bekannte". Die Philosophie befragt das, was mir eigentlich am bekanntesten, am selbstverständlichsten ist - so bekannt und selbstverständlich, dass ich es gar nicht mehr in Frage stelle.

Es ist mir so bekannt, dass es mir unbekannt wird. Wir Menschen rahmen die Realität ein, und alles was real ist, muss in diesen Rahmen passen. Wir wissen aber nicht, was der Rahmen ist, und was wir dabei alles ausblenden.

Das den Rahmen sprengende Ereignis

Aber wie spricht man von etwas, von dem man nicht weiß, was es ist. Das ist des Pudels Kern (um es mit Goethe zu sagen).

Philosophie ist Detektivarbeit: man muss versuchen, nachzuvollziehen, in welchem Rahmen wir die Realität denken, anhand der Spuren, die bleiben, wenn der Rahmen sich verzieht, wenn er sich erweitert oder verändert.

Und wenn das geschieht, wenn sich unsere Wahrnehmung der Realität verändert, wenn der Rahmen gesprengt wird, dann spricht man in der Philosophie von einem Ereignis.

Der Krieg in der Ukraine ist ein solches Ereignis, denn hier ist etwas geschehen, das in den Spielregeln der Realität nicht vorgesehen war. Angefangen mit der Art und Weise, wie hier angegriffen wurde, das Ausmaß der Truppenbewegungen, die Brutalität, mit der vorgegangen wird. Dann natürlich der Exodus der ukrainischen Bevölkerung - 1,4 Millionen Menschen auf der Flucht.

Aber auch die russische Propaganda, die so fadenscheinig und unverschämt ist, dass man Schwierigkeiten hat zu verstehen, wie man so etwas glauben kann. Die Sanktionen gigantischen Ausmaßes, mit denen ein großer Teil der Welt innerhalb weniger Tage und wohl auch dauerhaft vom Weltmarkt ausgeschlossen wird - mit natürlich massiven Konsequenzen für die russische Bevölkerung.

Dann die Wiederbelebung der Idee des Imperialismus, von der man glaubte, dass sie nur noch im Geschichtsunterricht Platz hat - was übrigens auch für die massive Aufrüstung Deutschlands gilt. Ich denke aber auch an das Zusammenrücken der europäischen Länder, die in der Covid-Krise ja so zerstritten waren und sich jetzt - angesichts einer direkten Bedrohung, darauf besinnen, dass sie zum Westen gehören.

Was ist eigentlich der "Westen"?

Und eben dieser totgesagte Westen, der sich - weil er als Feind deklariert wurde - zusammenrauft und neu positioniert - und sich wohl auch neu definieren muss. Denn hier wird gerade ein Land besetzt, das sich ganz klar dafür ausgesprochen hat, dem Westen angehören zu wollen, sich den westlichen Werten zu verschreiben.

Und das wirkt umso befremdlicher, als wir im Westen doch ständig darüber debattieren, was denn nun eigentlich diese Werte sind, was der Westen überhaupt ist - und auch gehörig Kritik daran üben. Aber vielleicht ist genau das das Wesen des Westens: im Westen ist Kritik am Westen, an seinen Werten und an seinen Exzessen erlaubt - vielleicht nicht immer erwünscht, aber erlaubt. Dass ein Land diesem unsicheren Gefüge Westen angehören will und dafür bereit ist, zu kämpfen, das muss auf uns zurückstrahlen.

Die Zeiten sind unruhig, weil der Effekt dieses Moments seine Gründe übersteigt. Niemand kann genau einschätzen, wie sich die Situation entwickeln wird, wie die Akteure darauf reagieren werden, in welche Richtung sich die Welt nach dieser Kriegserklärung entwickeln wird.

Eben darin besteht die Ereignishaftigkeit dieses Moments: nicht im Krieg selbst, denn der war lange angekündigt und man wusste ziemlich genau, wie er ablaufen würde. Nein: das Ereignis besteht in unserer Reaktion auf diesen Krieg. Wir sind dazu gezwungen, die Dinge nun anders wahrzunehmen, das Ereignis fordert uns auf, zu reagieren, uns neu zu positionieren und letztlich: Stellung zu beziehen.