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Seismograph

Soll man seine Kinder an den Weihnachtsmann glauben lassen?

Weihnachten ist in rund einer Woche, und um dieses Fest geht es auch, genauer gesagt um den Weihnachtsmann.

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4 min

Weihnachten ist in rund einer Woche, und um dieses Fest geht es auch in deinem Beitrag. Genauer gesagt um den Weihnachtsmann...

Ja Simon, und das aus folgendem Anlass: vor kurzem kündigte uns eine Freundin an, dass sie ihre beiden kleinen Kinder weder an den Kleeschen, noch an den Weihnachtsmann glauben lassen wolle. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass sie ihre Kinder nicht jahrelang in einer alljährlich neu geschürten Illusion großziehen wolle, nur um sie wenige Jahre später zu desillusionieren und dabei vielleicht zu traumatisieren. Außerdem störe sie das Gut-Böse-Narrativ, die Moralisierung und inkonsequente Strafandrohung, die der Weihnachtsmann ihr zufolge verkörpere. Nicht zu sprechen vom latenten Rassismus des "schwarzen Mann"-Kults, der den Kleeschen ja in vielen Gegenden begleitet und der zu nichts weiter dient, als den Kindern Angst zu machen. Letztlich sei dieses ganze Brimborium ja eine riesen Kommerzscheiße, aus den USA ins Nachkriegseuropa rübergeschwappt und hier einfach unkritisch übernommen. Sie hingegen wolle den Kommerz weglassen und den für sie wesentlichen Sinn des Weihnachtsfests zurückgewinnen: Zeit mit der Familie zu verbringen und sich auf das vergangene Jahr zu besinnen.

Ihre Argumente klingen ja aber irgendwie einleuchtend, oder?

Ja schon, und trotzdem traf sie damit im Freundeskreis auf großes Unverständnis, um nicht zu sagen: auf Empörung. Aber warum ist uns Erwachsenen dieser Brauch eigentlich so wichtig? Könnte es vielleicht sein, dass wir den Kleeschen in Ehren halten, weil es um mehr als um unsere Kinder und deren Freuden geht? Und warum schockiert uns diese willentliche Entzauberung, warum wirkt der Verzicht auf den Weihnachtsmann beinahe schon blasphemisch? Ich denke, wir stoßen hier zu der mythologischen Substruktur unseres Denkens vor.

Also zum "Mythos Kleeschen" sozusagen.

Ja, so erklärt es zumindest der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss in seinem Essay Le Père Noël supplicié von 1952. Lévi-Strauss betont, dass es sich beim Weihnachtsmann um eine Art Gottheit handelt, an die nur eine bestimmte Gruppe von Menschen glauben, nämlich die Kinder. Insofern hier die Menschen in zwei Gruppen eingeteilt werden, handelt es sich um eine Art Initiationsritus, der dazu dient, die eine Gruppe, also die Kinder, aus der Gemeinschaft der Wissenden auszuschließen und so die Ansprüche der Kleinen auf eine bestimmte Periode zu begrenzen. Das weist für Lévi-Strauss nun darauf hin, dass es sich hier nicht einfach um Beherrschung, sondern um einen Austausch handelt, eine Art Deal zwischen den Erwachsenen und den Kindern, für den der Weihnachtsmann eigentlich nur der Vermittler ist. Aber worum geht es in diesem Austausch, warum zelebrieren wir diese Figur und warum sind wir für die Aufrechterhaltung dieser Illusion zu so viel Mühen, zu so viel Kosten bereit? Nun, weil es hier um unsere eigenen Illusionen geht. Lévi-Strauss schreibt: "Indem wir unsere Kinder im Glauben lassen, dass ihr Spielzeug aus dem Jenseits kommt, verschaffen wir uns ein Alibi für unsere geheime Regung, [...] dieses Spielzeug dem Jenseits zu schenken unter dem Vorwand, es den Kindern zu schenken."

Kannst du das kurz erklären?

Nur Kinderglauben macht es möglich, dass Dinge einfach so auftauchen, aus dem Nichts, bzw. gebracht von einem magischen Opa vom Nordpol, der alle Wünsche kennt und alle Kinder beglückt. Solange wir bei den Kleinen diesen Glauben aufrechterhalten, existiert dieses Jenseits auch für uns. Diese Magie fehlt unserer Erwachsenenwelt nämlich, in der es nichts ohne Gegenleistung, nichts ohne Kontrolle, nichts ohne Verlust und Verzicht gibt. Anders gesagt: die Weihnachtsgeschenke, die wir unseren Kindern machen, sind in Wirklichkeit Opfergaben an die Magie der Kindheit, an die "Süße des Lebens" - wie Lévi-Strauss es sagt. Wenn wir uns hinter weiße Bärten und unter rote Gewänder verstecken, so feiern wir damit ein Leben, das wir in den großen Kinderaugen sehen und dort aufbewahren.

Und Simon, irgendwie liegt im Weihnachtsfest auch eine gewisse Gefahr, ein latentes Gefühl von Rausch und Exzess, von Unvernunft und Trieb, das sich später in der Sylvesternacht entlädt. Warum reagieren wir schließlich so gereizt auf die drohende Restriktion des Weihnachtsfests? Nun, weil wir in der kalten und dunklen Jahreszeit, in der das Leben stirbt, exzessiv eben dieses Leben feiern. Wir bringen ihm Opfer, wir feiern die Unvernunft und die Völlerei, wir streiten uns, wir lieben uns und erinnern uns bei all dem daran, dass wir noch nicht tot sind.