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/ Keiichiro Hirano: Das Leben eines Anderen

Buchkritik

Keiichiro Hirano: Das Leben eines Anderen

Einfach einen Strich ziehen und unter einem neuen Namen mit einer neuer Biografie ganz von vorne anfangen. Das klingt so einfach, aber ist es auch möglich? In seinem Roman "Das Leben eines Anderen", der 2018 in Japan erschien, beschäftigt sich Keiichiro Hirano mit dem Thema Identität. Hirano, der 1998 als jüngster Autor den angesehenen Akutagawa-Preis gewann, feiert mit diesem Roman sein deutschsprachiges Debüt.

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3 min

"Es ist unerträglich, wenn die Identität auf eine Sache reduziert wird und die Anderen einen damit festlegen." Dieses Statement gibt den Grundtenor von Keiichiro Hiranos Roman wieder.

Es stammt von Kido, und Kido weiß, wie es sich anfühlt, wenn man auf eine Sache reduziert wird, denn er ist ein Zainichi der dritten Generation. Zainichi, so nennt man die in Japan lebenden Koreaner.

Dass Kido die japanische Staatsbürgerschaft besitzt und als Anwalt dem japanischen System dient, mildert dieses Identitätsmerkmal nur geringfügig ab. Wenn sein Schwiegervater gönnerhaft konstatiert, Kido, sei "fast schon ein richtiger Japaner", spiegelt das den latenten Rassismus, mit dem Kido leben muss.

Was ist die eigene Identität?

Kido hingegen definiert seine Identität nicht über seine ethnischen Wurzeln, den Bezug dazu hat er längst verloren. Er sieht sich selbst "als Ergebnis unterschiedlicher Lebensphasen, zusammengehalten durch den Namen, Kido Akira".

Doch Namen sind nur Schall und Rauch, die Herkunft lässt sich verbergen, Biogra-fien sind austauschbar. Diese Erkenntnis gewinnt Kido in Hiranos vielschichtigem Roman, der Elemente aus Detektiv-, Gesellschafts-, Liebes- und Eheroman vereint.

Im Winter 2012 steckt Kido in einer existenziellen Krise. Die anti-koreanische Stimmung, die sich nach dem Tohoku-Erdbeben breit gemacht hat, setzt ihm zu - und seine Ehe. In dieser kritischen Phase erreicht ihn die Nachricht, dass Taniguchi Daisuke, der verstorbene Mann seiner ehemaligen Klientin Rie, nicht der war, für den er sich ausgegeben hatte. Doch die Lebensgeschichte, die er Rie erzählt hatte, stimmt mit der von Taniguchi Daisuke überein.

Aber wenn er nicht Daisuke war, wer war er dann? Und: Wo steckt der echte Daisuke?

Eine neue Identität annehmen

Kido begibt sich auf Spurensuche und stößt dabei auf ein verborgenes Netzwerk, das Handel mit Identitäten betreibt, samt den dazugehörigen Biografien und den entsprechenden Papieren.

Je tiefer Kido gräbt, umso mehr fasziniert ihn die Tatsache, dass Menschen eine neue Identität annehmen, um sich vom Ballast ihrer Vergangenheit zu befreien.

Aber der Identitätstausch wirft auch Fragen auf: Inwiefern ist ein Neubeginn überhaupt möglich, wenn eine Person in die Haut einer anderen schlüpft? Was macht der Identitätstausch mit ihr? Und: Gibt es ein echtes Leben mit einer falschen Biografie?

Kidos Interesse beschränkt sich längst nicht mehr nur auf den Fall Daisuke. Er träumt von einem Neuanfang und spielt mit dem Gedanken, das Leben eines Anderen zu führen. Ob er es wagt, wird hier nicht verraten.

Die Frage der Identität bleibt offen

Keiichiro Hirano leuchtet in "Das Leben eines Anderen" das Thema Identität in all seinen Facetten aus - von verlorenen Familienregistern über falsche Facebook-Accounts bis zu Ovids "Metamorphosen".

Im Hintergrund schwingt dabei stets die Frage mit: Was ist das eigentlich, Identität? Eine Antwort darauf gibt der 47-jährige Autor nicht. Aber er betont immer wieder: Identitätsmerkmale - ob Name oder Herkunft - werden der Komplexität einer Person und ihrer Entwicklung nicht gerecht. Sie sind immer Reduzierungen. Und nicht selten Ballast. So wie bei Kido.

Mit Kido hat Hirano einen Romanhelden geschaffen, der die Leser bedächtig, stets sich selbst reflektierend durch die komplexe Thematik des Buches führt. Und nicht nur das. Ganz nebenbei vermittelt Kido aus der Perspektive des distanzierten Beobachters ein vielschichtiges Bild von der japanischen Gesellschaft.

Hirano, der sich in der Vorrede als Autor auf der Suche nach außergewöhnlichen Protagonisten ausgibt, unterstreicht diese Distanz durch einen reservierten, sachlich-nüchternen Stil, der aus der Feder eines Anwalts stammen könnte.